Fliegen, stürmen, schießen

Beim vorgezogenen Olympia-Auftakt der Fußballerinnen erteilt das deutsche Team den Chinesinnen eine Lehrstunde in Effektivität und ist nach dem verblüffenden 8:0-Sieg der absolute Gold-Favorit

AUS PATRAS MARTIN HÄGELE

Es hat gerade mal 20 Minuten in ihrem 176. Länderspiel gedauert, bis Fan Yunjie merkte, dass sie in einer anderen Fußball-Welt gelandet war. Die 32-jährige Spielführerin der chinesischen Frauen-Auswahl kann so etwas beurteilen. Sie hatte als eine der wenigen Ausnahmen aus der großen Generation den Umbruch nach dem enttäuschenden 5. Platz bei der Weltmeisterschaft 2003 in Amerika überlebt. Von der Frau mit der Nummer 5 im Abwehrzentrum erwartet ein erfolgverwöhntes Volk, dass sie ihren jungen Kolleginnen den entsprechenden Weg zeigt. Im Reich der Mitte kennt man sportpolitisch klare Vorgaben, und das große Ziel von der Goldmedaille 2008 vor eigenem Publikum passt obendrein ideal zu den vertrauten Fünfjahresplänen.

In solchen Vorstellungen ist kein Platz für eine 0:8-Niederlage oder dafür, dass die alten Großmeisterinnen dieses Spiels von ihren ehemaligen Schülerinnen eine solch furchtbare Lektion erhalten könnten. Immerhin hatten Frau Fan und deren Genossinnen den deutschen Weltmeisterinnen vor drei Monaten in Fürth den ersten Kratzer in deren glänzende Bilanz gezogen. Dieses 0:1 hatte entsprechend Wirkung gezeigt. So stellte Silvia Neid, die Co-Bundestrainerin, einen regelrechten Schock bei ihren Schützlingen fest. „Die wussten ja gar nicht mehr, wie sich Niederlagen anfühlen.“

Umgekehrt hatte dieser Erfolg im Spielzimmer des Weltmeisters den neuen chinesischen Fußball-Zirkus beflügelt. Der deutsche Elektrokonzern Siemens, Hauptsponsor für alle chinesischen Auswahl- und Profi-Liga-Mannschaften, lieferte seinen Werbe-Repräsentantinnen auch noch das entsprechende Spielzeug, sprich den Stoff für die Visionen. Auf ihren Handys befinden sich Programme für virtuelle Länderspiele, mit den Fotos und Bewegungsabläufen ihrer Gegenspielerinnen. Deutschland ist auf der höchsten Schwierigkeitsstufe gesetzt. Computer-China kann jedoch, bei der Wahl einer gescheiten Taktik und dank geschickter Finger auf dem Cursor, den Favoriten schlagen.

In der Wirklichkeit aber bewegen sich die deutschen Frauen mit ganz anderem Tempo und viel mehr Wucht, als es sich auf dem kleinen Display in der Hand vorspielen lässt. Und so trafen die beiden ersten Kopfballtore durch Birgit Prinz das Selbstbewusstsein von Chinas Ensemble gleich entscheidend. Die 26-jährige Physiotherapeutin aus Frankfurt gilt zwar als weltbeste Fußball-Frau. Den Chinesinnen aber muss die deutsche Modellathletin erschienen sein, als fliege und hechte, stürme und schieße da ein weiblicher Ronaldo oder van Nistelrooy durch ihren Strafraum.

Natürlich mag die Torjägerin Birgit Prinz solche Vergleiche mit dem anderen Geschlecht nicht. Natürlich mag auch die Cheftrainerin Tina Theune-Meyer nicht, wenn man ihre 18 Spielerinnen nun als den heißesten Gold-Tipp aus Deutschland beschreibt. Sie mag es auch nicht, dass ihr Kollege Zhang Haitao, bekanntermaßen ein Fan von Birgit Prinz, Torfrau Silke Rottenberg und Co., seine Verehrung in asiatischer Demut darbringt: Die Deutschen seien nicht nur Weltmeister, sondern auch die Besten der Welt. Aufgrund ihrer überragenden Stürmerinnen praktisch unschlagbar.

Frau Theune-Meyer spricht zwar auch von einer Medaille, „die man unbedingt holen will“. Aber noch sei nichts gewonnen. Denn ein bisschen ist ihr Kalkül durcheinander geraten nach der überraschenden Niederlage der Schwedinnen gegen die wuseligen Japanerinnen. Jetzt begegnet man den skandinavischen Kontrahentinnen aus den letzten EM- und WM-Endspielen wohl bereits im Viertelfinale – diesmal kann die Entscheidung über den Titel also nicht mehr durch ein deutsches Golden Goal gegen das Tre-Kronor-Team fallen. Ursprünglich hatten die DFB-Frauen in der ersten K.o.-Runde unbedingt ein Treffen mit der alten Garde aus Amerika vermeiden wollen. Die US-Frauen trommeln sich vor diesem Duell mit dem letzten Auftritt von Superstar Mia Hamm und der Revanche für die 0:3-Niederlage im WM-Halbfinale von Los Angeles stark.

Im deutschen Quartier dagegen gilt die größte Sorge des Trainer-Gespanns den medialen Folgen des sportlichen Paukenschlags: Die acht Tore waren nicht unbedingt ein Vorteil, „weil wir jetzt noch mehr im Rampenlicht stehen“, argwöhnt Theune-Meyer im Hotel in Patras. Man kann die Dame beruhigen. Die 230 Straßenkilometer von Athen in die olympische Außenstelle sind kein großes Vergnügen. Und im Übrigen zeichnet sich der DFB-Kader durch kollektives professionelles Denken aus. Keine einzige Spielerin wollte zur Eröffnungsfeier nach Athen fahren; es ist auch niemand gefragt worden. Und die Sehnsucht, ins Olympische Dorf und in die Gemeinschaft der Weltsportfamilie zu ziehen, wurde auch noch nicht geäußert. Solch zeremonielle und emotionale Geschichten lassen sich viel besser erleben, wenn zuvor noch ein paar Mal gewonnen wurde.